Warum sich etwas verändert hat, kann ich nicht genau sagen. Wodurch, nun, ich habe eine Vermutung. Der durchaus schlimmere Ausgang meines Unfalls hat vielleicht meine Sicht auf die Dinge, die ich für wichtig halte, zurecht gerückt.
Mir ist mittlerweile klar, dass viele Traumata aus meiner Kindheit auch den 56 jährigen Uwe noch belasten. Mangelnde Liebe, Zuneigung, einfach da sein. Psychische Gewalt, die das Leben als Kind zu einem andauernden Angstzustand gemacht haben.
Das legst du nicht mal so einfach ab. Daran arbeitest du dich ein Leben lang ab. Aber wenn du Glück hast, gibt es Ereignisse oder Begegnungen, die dir den Weg weisen.
Mental war ich bislang immer auf Alarmbereitschaft, was denken die anderen, was könnte passieren, was muss ich tun, um sicher zu sein. Sicherheit war und ist für mich extrem wichtig, weil ich sie als Kind absolut nicht gespürt habe, nicht zuhause und schon gar nicht in der Schule, wo ich als Linkshänder mit Segelohren und einer Körpergrösse von 1.96m Standardziel für Mobbing war.
Alles Dinge, die geschehen sind und die vielleicht verdrängt aber nicht vergessen sind. Und dann sind da die Momente wie der Unfall, die dich komplett aus der Bahn werfen, die deine Gedankenkreise zerbersten lassen.
Noch bin ich nicht komplett geheilt entlassen. Noch muss ich mich schonen und habe eigentlich viel zu viel Zeit zum Grübeln. Aber die Grübelein sind viel seltener. Das Alter als Grund, ich denke nicht. Es ist vielleicht eher das Bewußtsein, dass das hätte sehr böse enden können und ich abwägen muss, wofür ich meine Energie aufwende. Rückblickend viel zu oft für falsche Ziele, für die Sicht anderer auf mich, aus der Sorge heraus, was andere über mich denken könnten.
Vielleicht hatte ich in den zwei Wochen Krankenhausaufenthalt auch die Distanz zu meinem „normalen“ Alltag, um erkennen zu können, wer wirklich zählt. Besuch bekam ich fast ausschliesslich von meiner Familie. Meine Frau war jeden Tag zumindest kurz da. Was im Beruf passiert, was ich sonst für Sorgen hatte, die waren alle plötzlich weg. Teils der Schmerzen wegen aber auch, weil mir einer meiner eigenen Kernsätze auf Vorträgen und Lesungen wieder in den Sinn kam. „Ich wünschte, ich hätte ein gebrochenes Bein gehabt, statt einer psychischen Krankheit“. Jetzt hatte ich genau das. Und ja, da konnten die Ärzte aktiv helfen.
Was aber nach wie vor galt, und das ist der zweite Teil der Aussage: Eine psychische Krankheit kann nur ich selbst verändern. Denn im Gegensatz zu einem gebrochenen Bein kann kein Arzt mal eben in meinen Kopf greifen und meine Depression, meine Ängste reparieren oder entfernen. Das kann vermutlich nicht mal ich. Aber ich kann verändern, anders betrachten, anders agieren.
Und das war und ist die Veränderung, die ich gerade spüre. Geänderte Prioritäten, anderer Umgang mit dem, der ich bin. Akzeptanz und der Wille, weiter an mir zu arbeiten sind so stark wie lange nicht. Und das spüre ich jeden Tag, den ich hier zuhause verbringe. Es tut sich was, viele zu spät eigentlich. Aber das ist auch etwas, dass ich abzulegen bereit bin. Vergangenheit ist nicht real, Zukunft ist nicht real. Die einzige Realität ist die Gegenwart und so versuche ich jetzt endlich auch zu leben. Von Tag zu Tag. Nur das jetzt als bedenkenswert erachten. Fokus auf das, was gut ist und verändern, was noch schlecht ist.
Rückblickend auf diesen Text lese ich viel, was so mancher als Klischee oder „zu einfach gedacht“ abtun wird. Aber das ist ja oft das Dilemma. Was zu tun ist, ist klar. Aber Depression und Angst lähmen so sehr, dass die Schritte unmöglich sind. Vielleicht war der Unfall der Cut, den ich brauchte, um auf den richtigen, den weniger begangenen Pfad zu gelangen. Und hoffentlich bin ich schon weit genug gelaufen, damit eine Umkehr nicht nur nicht mehr sinnvoll sondern positiv unmöglich ist.
Seltsame Heilung…