Matthias Schwenk sieht in den neuen Erkenntnissen der Hirnforschung neue Chancen für die Marktforschung:“ Soziale Netze, neuronale Netze und das Zeitalter der Transparenz — CARTA.“
Dem möchte ich widersprechen. Die Ideen, die auch in dem Vortrag von Sebastian Seung dargestellt werden, unterscheiden sich extrem deutlich von den Fragen der modernen Marktforschung. Denn selbst, wenn es eines Tages gelingen sollte, das sogenannte Connectom eines Menschen, also das Equivalent des Genoms aus den Vernetzungen des Gehirns zu extrahieren, hat die Wissenschaft nicht weniger, aber auch nicht mehr als die physikalische Struktur des Gehirns in der Hand. Dann erst kann überhaupt damit begonnen werden, zu erforschen, wie in diesen komplexen Vernetzungen Gedanken entstehen.
Auch die bisherigen Erkenntnisse aus den Untersuchungen mit MRT, die zum Beispiel zu Theorien über Spiegelneuronen führten, die aktiv sind, wenn ein bestimmtes Handlungsmuster ausgeführt oder beobachtet wird (vor kurzem in einem Artikel in der Zeit sehr schön dargestellt) sind mit sehr viel Vorsicht zu geniessen. Es muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass eine Aktivität in einer Hirnregion beim Anblick eines Apfels etwas über Apfel als Repräsentationsmuster im Gehirn aussagt, es kann verschiedenste Ursachen haben, wie ein bestimmtes neuronales Aktivierungsmuster beim Betrachten von Objekten, eine Kategorisierung in „Lebensmittel“ oder ganz andere Bedeutungen. Wir wissen einfach noch NICHTS darüber, wie sich aus der Struktur des Gehirns die metaphysische Ebene des Individuums manifestiert. Viele Forscher arbeiten an diesen Fragen, aber es wird noch Jahrzehnte dauern, bis hier wirklich tiefergehende Erkenntnisse kommen. Insofern würde ich hier keine zu großen Erwartungen in eine Projektion der Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft in die Sozialen Netze legen. Denn dort operiert nicht ein physikalisches Medium aus Neuronen, Synapsen und deren Vernetzung sondern emotionale und verstandgelenkte Wesen, die nicht so einfach durchschaubar sind, wie sich das die Marktforschung gerne vorstellen würde.
Sicher, wir erlangen immer tiefere Erkenntnisse in die funktionalen Bestandteile des Gehirns. Aber ebenso wie es eine immer tiefer gehende und komplexere Forschung nötig ist,um zu verstehen, WAS die ganzen Genombestandteile bedeuten, wird es noch komplexere Forschung bedingen, auch nur annähernd zu verstehen, wie aus Verstärkung und Abschwächung, aus vielfacher Vernetzung von Neuronen das entsteht, was wir Bewußtsein, ja Denken nennen. Die Verbindung von Größe der Amygdala und Grad sozialer Vernetzung ist nach ersten Erkenntnissen da, aber warum? Wie entsteht sie? Hängt sie wirklich mit der Größe sozialer Vernetzung zusammen, oder mit dem Grad an Kontaktfreude? Mit der Charaktereigenschaft der Extorvertiertheit?
Liest man bei Wikipedia nach, wird der Fehler in der Grundannahme offensichtlich. Die Korrelation bedingt keineswegs einen Zusammenhang der beiden Nenngrößen zueinander.
Zitat Wikipedia:“Die Korrelation beschreibt die Beziehung zwischen zwei oder mehreren statistischen Variablen. Wenn sie besteht, ist noch nicht gesagt, ob eine Größe die andere kausal beeinflusst, ob beide von einer dritten Größe kausal abhängen oder ob sich überhaupt ein Kausalzusammenhang folgern lässt.“
Solche Zusammenhänge werden aber in den Medien gerne konstruiert, weil sie „halt spannend klingen für den Leser“