Wir leben in einer Zeit des Beurteilt werdens. Nicht nur Schulnoten, auch im Beruf gibt es immer häufiger Noten, Beurteilungen, Fremdeinschätzungen. Vom Mitarbeitergespräch bis zum Assessment-Center, von Persönlichkeitstests bis zu Zeitungsartikeln wird uns suggeriert, das objektivere Bild von uns selbst liefern immer die anderen.
Assessment-Center zum Beispiel prüfen meiner Ansicht nach sowieso meist nur, wie gut ein Kandidat schauspielert und das liefert, was die Beurteilenden sehen wollen. Ob das nun wirklich das ist, was das Unternehmen EIGENTLICH braucht ist zweifelhaft, denn es beurteilen ja diejenigen, die schon im Unternehmen sind. Man bekommt also häufig „more of the same“ anstelle von denjenigen, die notwendige Veränderungen ins Haus tragen würden. Die kauft man sich dann teuer als externe Berater ein.
Ich halte das für eine ausgesprochen gefährliche Entwicklung. Denn sie degradiert unser Selbstbild zu etwas, das fehlerhaft, ungenau, gelogen ist. Und das für uns ALLE. Dabei gehe ich immer noch davon aus, dass jeder selbst seine Stärken und Schwächen am besten kennt.
Und in Konsequenz auch, dass vieles an Stress, Angst und Druck dadurch entsteht, dass der Mensch immer häufiger in Rahmen gepresst werden soll, die ihm nicht passen.
Der Introvertierte muss plötzlich extrovertiert sein. Jeder hat sich zu einer Rampensau zu entwickeln und alle sollen möglichst Führungsqualitäten zu haben.
Wir leben in einer Zeit, in der der Mensch sich den Aufgaben anzupassen hat, koste es was es wolle. Dass ein solche Vorgehen auf Dauer psychisch und ggf. sogar körperlich sehr belastend sein kann, dürfte klar sein.
Wir sollten endlich wieder uns selbst vertrauen (Selbstvertrauen irgendwer?) und uns nicht von all den Menschen irre machen lassen, die meinen, sie wüssten am besten, wie wir uns zu verhalten haben, wie wir gesund, glücklich, erfolgreich sind.
Ja, es gibt die Selbstlüge, aber ich glaube, hier geht man viel zu oft davon aus, jeder Mensch belüge sich über seine Fähigkeiten. Vielleicht ist aber gerade dies das große Dilemma. Wir vertrauen so lange dem eigenen Urteil nicht mehr, bis wir völlig fremdbestimmt leben und überhaupt nicht mehr den Werten und Zielen folgen, die uns ganz persönlich wichtig sind.
Aber wer ein gesundes Selbstbewußtsein und damit Selbstbild hat, ist natürlich weit weniger manipulierbar, lässt sich weit weniger von anderen indoktrinieren und ist damit nicht so einfach handhabbar wie derjenige, der jede Kritik gleich für bare Münze nimmt und permanent versucht, sich den Meinungen und Wünschen anderer unterzuordnen.