Vorwort statt Nachruf
Es ist seltsam, die eigene Geschichte zwischen den Deckeln eines Buchs nachlesen zu können. Als mir Anfang 2015 angeboten wurde, über meine Krankheit und meine Erlebnisse in den Kliniken ein Buch zu schreiben, war das für mich zunächst ein schlechter Scherz. Erst als ich anfang 2017 ein echtes, papierenes Exemplar meines Buches in Händen hilt, konnte ich endlich akzeptieren, dass es wahr geworden ist, dass ich Autor bin, dass mein Buch tatsächlich in Buchläden zu finden sein würde. Wie sehr „Depression abzugeben“ von den Lesern gemocht wurde und wird, das überrascht mich dennoch jeden Tag aufs Neue. Viele neue Kontakte, Gespräche und mediale Auftritte gab es seitdem. Ich bin auch daran gewachsen, sicherer, stabiler. Aber bis zu diesem Gefühl, diesem Gesundheitszustand war es ein langer Weg, der eigentlich im Rückblick erst nach den Kliniken began, also da, wo „Depression abzugeben“ endet. Dieses Buch soll nun daran anknüpfen. Freilandhaltung erzählt die Geschichte zu Ende, berichtet davon, was alles geschah, nachdem ich die Kliniken verlassen habe, was aus medialer Aufmerksamkeit erwachsen kann und warum es für mich mit der elementarste Teil meines Heilungsweges war und ist, über meine Geschichte, meine Krankheit zu sprechen. Ich will mit diesem Buch weder anklagen, noch beschönigen aber darlegen, dass auch nach einer ausgiebigen Behandlung der Weg zurück in den Alltag sehr steinig ist. Vieles, was es an Unstimmigkeiten gab, war zu einem guten Teil meine eigene Schuld. Ich war noch weit davon entfernt, stabil zu sein, habe das aber viel zu spät erkannt. Die Geduld, die man während dieser Zeit mit mir hatte, hat mir den Weg zurück erst ermöglicht. Viele Konflikte, viele Ängste, die mir fast den Weg zurück verbauten, waren nichts weiter als potemkinsche Dörfer, die mir die Sicht auf die Realität verstellten und mich in allem einen Feind sehen ließen. Nicht nur mein Überleben 2015 war ein Glücksfall, sondern auch der steinige und konfliktträchtige Weg zurück ins „normale Leben“, was auch immer normal daran sein soll war im Rückblick auch ein Glücksfall, da es noch weitere Menschen gab, die mir wohlgesonnen waren und mir manchen Ausreißer und Rückfall verziehen haben.
Sie sind entlassen
Ich habe überlebt. Drei Kliniken, drei Versuche, mir auf die Schliche zu kommen, meine Krankheit zu erkennen, zu verstehen, zu heilen. Und irgendwie fühle ich mich dennoch nicht anders, nicht sicherer, nicht verändert.
Ich bin rein in die Psychiatrie mit der Diagnose schwere Depression und Suizidversuch. Dann hat man noch meine Ängste ausgegraben. Nicht die, die wir alle haben, wenn es dunkel ist und man alleine unterwegs. Wenn man sich fragt, ob man den Herd wirklich ausgemacht hat oder das Haus in Flammen steht, wenn man zurückkehrt.
Es sind existentiellere Ängste, manchmal nur für einen selbst fassbar, Ängste vor Jobverlust, Ängste vor den Meinungen anderer und ja, in letzter Konsequenz selbst die Angst vor der Angst. Und da bin ich immer noch richtig gut. Wenn andere schon längst abwinken, weil das doch alles unrealistisch ist, kann ich mir immer noch eine weitere Eskalationsstufe der persönlichen Katastrophe vorstellen.
Und eine Agoraphobie, also eine Phobie vor großen Menschenmengen habe ich obenauf. Nicht, wenn ich auf der Bühne stehe, da ist der Begriff Rampensau wie für mich gemacht. Aber danach, in der Menge, das Bad ist für mich schon etwas unangenehm, etwas zu viel Input. Wobei ich mir hier nicht sicher bin, ob diese Diagnose nicht einfach nur eine Reaktion auf meine Anmerkung war, dass ich große Menschenmengen meide. Es ist ja nicht so, dass ich dann austicke, oder eine Panikattacke bekomme. Es gefällt mir einfach nicht. Genau so wenig, wie bei einer OP zuschauen zu müssen oder etwas zu essen, was mir nicht schmeckt. Nicht pathologisch. Zumindest nicht, bis man einem Therapeuten gegenübersitzt, der jede Äußerung zweideutet und vielleicht manchmal übers Ziel hinausschießt. Aber letztlich beließ er es bei der Diagnose und Therapien dafür gab es keine. Insofern kann ich gut damit leben.
Die Sonne scheint ausnahmsweise an diesem Morgen. Diesem ersten Morgen, an dem ich wieder zur Arbeit gehen werde. Nicht gänzlich normal, denn ich werde wiedereingegliedert nach dem Hamburger Modell, und das hat nichts mit der Fast-Food Kette zu tun, auch wenn mir die Aussicht ähnlich auf den Magen schlägt wie mancher Besuch bei eben diesem Burgerbrater es in der Vergangenheit getan hat.
Mein Frühstück heute besteht, wie eigentlich immer, wenn ich zuhause bin aus einer frisch gebrühten Tasse Kaffee und dem Lesen der neuesten Nachrichten auf meinem Smartphone. Das vermutlich hätte bei manchen meiner Gott sei Dank hinter mir liegenden Therapeuten zu mahnenden Fingern und Worten geführt wie: »Aber Herr Hauck, sie müssen doch etwas essen. Aber Herr Hauck, doch nicht jetzt schon das Smartphone.« Und wahrscheinlich auch die Ermahnung meines speziellen Therapeuten des Grauens. »Herr Hauck, ich fürchte, sie sind Internet süchtig.« Was hat der mich mit seinem Blödsinn auf die Palme gebracht. Gott sei Dank hatte ich damals Juliane in der Klinik, die mich wieder eingefangen hat. »Das machen die doch absichtlich, damit du endlich mal auf Krawall bürstest.« Sie hatte wohl recht damit, oder zumindest war das für mich eine Aussage, die das ganze Theater etwas erträglicher gemacht hat. Aber genervt hat es trotzdem und mein Vertrauen in die objektive Betrachtung meiner Person hat es damals für lange Zeit kaputt gemacht.
Es ist an der Zeit, mich auf den Weg zu machen. Weil es einfacher ist, und weil es meine Grundstimmung nach all den Erkenntnissen aus einem halben Jahr Therapie und ebenso langem Warten auf dieselbe am besten repräsentiert, trage ich schwarz. Komplett, Socken und Unterwäsche inklusive. Ich musste deshalb wochenlang erklären, dass niemand verstorben ist, dass ich keine Trauer trage. Manchmal hab ich dann gesagt, doch, ich trag Trauer über all die dummen Fragen und Ratschläge, die ich auch jetzt noch bekomme.
Ich fahre wieder mit dem Rad. Endlich. Das ist auch der einzige Sport, den ich betreibe. Das mit diesem: »Kaufen Sie sich Joggingschuhe und gehen Sie regelmäßig laufen«, das mir der Arzt nach meinem Burn-out damals geraten hat. Ja, ich habe es ein halbes Jahr gemacht. Hab dabei ordentlich Gewicht verloren. Und nach und nach die Lust, im Kreis zu rennen, japsend und jedes Mal genervter und kaputter zu hause anzukommen, als ich losgelaufen war. Also hab ich es gelassen. Gut, wenn mir ein Arzt wieder mal die scheinbar alles entscheidende und das Leben sofort gesund und glücklich machende Frage stellt: »Treiben Sie Sport?«, antworte ich natürlich strahlend und hochmotiviert »Aber ja, ich fahre Fahrrad.« Dass das dann jeden Tag gerade mal 6 Kilometer zur Arbeit und zurück sind und ich die Hälfte davon ganz entspannt rollend absolviere: Kann man erwähnen, muss man aber nicht. Das ist etwas, dass ich in den Kliniken gelernt habe. Immer schön aufpassen, was für ein Mensch vor dir sitzt, welches Weltbild er für das selig machende hält. Und dann auswählen, was dir gefällt. Denn wenn man allen Ratschlägen jedes Therapeuten folgen würde, der den eigenen Lebensweg bzw. Leidensweg streift, man müsste sich permanent und teilweise radikal ändern. Das hat nichts mehr mit dem zu tun, was ich noch in der Zeit der Kliniken schwer ablegen konnte. Damals hatte ich die Tendenz, stets das antworten und auch nach Möglichkeit tu zu wollen, von dem ich annahm, es würde mir bei meinem Gegenüber Bonuspunkte bringen würde. Das galt insbesondere, wenn die Person in einer Machtposition mir gegenüber stand.
Ich schnappe mir meinen Rucksack, gebe Sibylle und den Kindern einen Abschiedskuss und steige aufs Rad, das draußen vor der Haustür bereits wartet. Noch den Mini-Kopfhörer aufgesetzt, möglichst positive, motivierende Musik gestartet und los geht’s. Freue ich mich eigentlich auf die Arbeit? Ist irgendwie schwer zu sagen. Momentan hab ich eher Angst vor dem, was mich erwartet. Angst, wieder die gleichen scheinbar guten Ratschläge zu kriegen, auf Unverständnis zu stoßen oder vielleicht sogar irgendwann die Kündigung in Händen zu halten. Okay, Letzteres ist meinem Drama-Queen Anteil geschuldet.
Das surrende Geräusch der Reifen auf dem Asphalt klingt ungewohnt nach der langen Zeit ohne Fahrradfahren. Die Felder sind leer, es ist kalt aber kein Schnee pudert die Landschaft ein, es ist eher grau und trist. Dann wechselt die Umgebung und ich gelange in die Außenbezirke meines Arbeitsortes. Typische Einfamilienhäuser, so sauber und gepflegt wie austauschbar. Genau wie die Leben, die darin geführt werden. Vor jedem Haus parkt mindestens ein Auto. Gewaschen, gepflegt, auf Pump gekauft. Wie wohl auch das Haus, die Einrichtung, das ganze Leben. Auf Pump, geliehen, nicht das eigene sondern das, was man denkt, führen zu müssen.
Auf den Gehwegen sieht man viele Gestalten, die entweder noch gar nicht ganz aufgewacht sind, oder für den Weg zur Arbeit beschlossen haben, dass man da auch mit noch halb wachem Verstand gut bedient ist. Wobei, eigentlich dürften viele auch während des Arbeitstags ihren Verstand irgendwo draußen zum Spielen geschickt haben, denn eigenständiges Nachdenken ist ja… Ich merke, ich muss aufpassen, ich eskaliere schon wieder über Dinge, die mich auch nach den Therapien am Normaltag der Mehrheit stören. Dinge, die ich schon vor einem Jahr nicht für richtig gehalten habe und die ich auch heute ablehne. Aber leider bin ich nicht in der Situation, hier etwas ändern zu können. Nur darüber schreiben, das kann ich.
Denn seit der stationären Therapie arbeite ich an meinem ersten Buch. Ein Literaturagent war damals auf mich zugekommen und hatte gefragt, ob ich mir nicht vorstellen könne, aus den Tweets, die ich #ausderklapse gesendet habe, ein Buch zu machen. Die Mail kam mir zunächst wie ein schlechter Scherz, wie Spam vor.
Mein Leben, eine Geschichte? Das Leben, das ich gerade sehr talentiert vor die Wand gefahren hatte? Meine Zeit in der Klapse wert, beschrieben zu werden? Die Antwort auf die Mail habe ich zunächst verschoben. Das Konzept an sich fand ich damals faszinierend, wollte ich doch als junger Erwachsener ernsthaft Journalist oder Schriftsteller werden. Aber mein nach Sicherheit suchender Teil meiner selbst riet mir intensivst davon ab, so daß aus mir dann doch ein eher langweiliger Informatiker wurde, weit weniger kreativ als ich es eigentlich werden wollte. Aber da hatte insbesondere meine Mutter ganze Arbeit geleistet und so viel Angst, so viel Unsicherheit in mich gepflanzt, dass mir die Gefahr weit größer schien als die Chance, etwas Kreatives zu erlernen, etwas Künstlerisches. Das ist auch etwas, das mich im Moment immer noch beschäftigt, und das in den Kliniken begonnen hat. Hinterfragen, was ich in der Vergangenheit wirklich für mich getan habe, und was entweder reiner Trotz meiner Mutter gegenüber war oder der kleine, verängstigte Uwe, der zwar viele Träume hatte, aber noch mehr Angst, sie umzusetzen, insbesondere, wenn sie mit Risiken behaftet waren. Ich erinnere mich an die Kunstmappe, die Zeit des Zivildiensts, in der ich mein Talent fürs Zeichnen und Malen ausgebaut habe, sogar Geld bezahlt habe für Unterricht bei einem Kunstmaler. Als die Mappe so weit vollständig war, habe ich sie meinem damaligen Kunstlehrer gezeigt, der mir durchaus Chancen damit einräumte, an einer Kunstakademie angenommen zu werden. Aber kaum war die Möglichkeit da, bekam die Angst und der kleine Uwe die Oberhand und ich verzichtete lieber auf dieses unwägbare Abenteuer. Letztlich steht für mich nach wie vor die Frage im Raum, habe ich Informatik wirklich gewählt, weil ich es wollte, oder weil es eben der sicherste Pfad für mich war. Denn eigentlich habe ich nie wie ein typischer Informatiker gearbeitet. Im Scherz habe ich mal gesagt, ich schreibe Programme, wie andere Leute Geschichten schreiben. Mein Gegenüber lachte damals und ahnte nicht, wie viel Wahrheit in dieser Beschreibung lag.
Ich schwenke in die Straße ein, in der auch das Bürogebäude meines jetzigen Arbeitgebers liegt. Von allen Seiten, aus Parkhaus, Bushaltestelle und von den Fußwegen strömen Menschen ins Gebäude. Ein Blick auf die Uhr: 8:00 Uhr. Auch wenn man eigentlich Gleitzeit hat und die Arbeit beginnen kann, wann man will so ist es hier wie wohl in vielen anderen Unternehmen auch. Die Mehrheit schätzt den klassischen 8 Stunden Tag von 8:00 Uhr bis 16:30. Dann ist die Rush-hour, dann sind die Busse überfüllt, dann stauen sich die Menschen vor der Eingangstür. Man mag immer wieder hören, dass Menschen nach Individualität streben, nach anders sein. Aber die Mehrheit definiert eine Norm und betrachtet jeden sehr kritisch, der sich ihr nicht vollumfänglich unterwirft.
Auf halber Höhe zum großen Vorplatz mit dem Haupteingang liegt die Einfahrt zur Fahrradgarage. Ich schließe mein Fahrrad an einen der Fahrradständer, hänge meinen schwarzen Helm, ja, auch der ist schwarz, an den Lenker und wende mich dem Eingang zu. Einmal tief durchatmen. Hamburger Modell. Noch bin ich krank geschrieben, noch kann ich, sollte mir das ganze zu viel werden auch schon früher als nach den geplanten vier Stunden täglich abbrechen und nach hause gehen. Bin quasi noch in Schonhaltung, noch nicht ganz fit und das, was ich in den nächsten Wochen abliefere ist mehr Verprobung, ob ich schon wieder für die »normale« Arbeit geeignet bin, oder ob es noch Anpassungen bedarf. Dabei ist mir noch nicht mal klar, ob ich den »normalen« Arbeitsanforderungen überhaupt jemals wieder entsprechen will, haben die mich doch mit über die Kante gestoßen. Introvertiert in einer extrovertierten Arbeitswelt, hochsensibel unter vielen, die nicht mal gemerkt haben, wenn es mir nicht gut ging. Und vor allem, bombardiert mit Ratschlägen, wie ich arbeiten soll, die sich teilweise fundamental widersprachen und letztlich nur als Botschaft hatten: Wie sollst du dich verhalten, damit du das tust, was der Norm entspricht. Ob es das ist, was im Sinne der zu erledigenden Aufgabe das Richtige wäre, das interessiert niemanden, denn wie schon so schön der Rektor zu Schüler Pfeiffer sagt: »Er denkt ja schon wieder. Er soll doch nicht denken.« Das Büro ist eine Zweckgemeinschaft.
Für mich eine der schwierigsten Gemeinschaften überhaupt. Immerhin fühlt es sich gut an, wieder da zu sein. Für die nächsten vier Wochen werde ich vier Stunden pro Tag arbeiten, danach für zwei Wochen sechs Stunden und dann wieder ganz normal. Man hat mir wohl auch bereits Aufgaben zugeordnet und mein alter Arbeitsplatz ist immer noch da, wenn auch mittlerweile in einem anderen Bereich unserer Etage, mit relativ wenig natürlichem Licht und fast keiner Aussicht. Also eigentlich genau das, was ich als Mensch mit Depressionen gar nicht brauchen kann. Die Dame am Empfang grüsst freundlich, sollte sie erkannt haben, wer da vor ihr steht, lässt sie es sich zumindest nicht anmerken. Mit dem Betriebsausweis rufe ich einen der Aufzüge, der die Angestellten zu ihrem jeweiligen Unternehmen in der entsprechenden Etage bringt. Alles Rituale, die ich seit einem Jahr nicht mehr vollzogen, aber irgendwie auch nicht vermisst habe. Der Aufzug ist voll, alle Blicke so gut es geht aneinander vorbei oder zu Boden. Aufzüge sind irgendwie Räume der Stille, zieht man mal das Rumpeln und Knarzen der fahrenden Kabine ab. Langsam leert sich der Aufzug wieder und nach in die einzelnen Etagen bis schließlich meine Etage den Rest aufnimmt. Raus aus dem Aufzug, durch die Glastür und dann gleich links in ein Großraumbüro, wie ich sie überhaupt nicht mag. Noch dazu kaum Fenster auf unserer Seite, da wir mit Blick auf den Flur sitzen. Für einen Softwareentwickler ist ein Großraumbüro wie eine Legebatterie für Hühner. Billig, einfach zu verwalten aber eine Katastrophe für die Konzentration. Aber was will man machen. Außer für die obersten Führungsebenen gibt es für die meisten keine Wahl, Großraum oder kein Raum.
Mein Schreibtisch ist eingerahmt von Umzugskartons, 3 Stück hat man wohl gebraucht, um all meinen Kram ins neue Büro umzuziehen. Ich beschließe, das erst mal eingepackt zu lassen. Wenn ich die Kisten in nem halben Jahr noch nicht geöffnet hab, schmeiß ich sie einfach weg. Da ich für mich beschlossen habe, einen härteren Schnitt zwischen Beruf und privat zu machen, werde ich keine persönlichen Dinge mehr auf dem Schreibtisch haben, mich auch nicht mehr an irgendwelchen Feiern, Festen oder Teamevents beteiligen. Auch wenn ich in der Vergangenheit immer lautstark für eine Work-Life Balance oder soger eine Integration war. Was ich im vergangenen Jahr erlebt habe, hat mich überzeugt. Ich muss da hart trennen, feiern nur da, wo mir auch nach feiern zu Mute ist. Nix gegen das Arbeiten gehen. Aber ich hab die letzten Jahre meinen ganzen Sinn, den Grund für meine Existenz aus der Arbeit gezogen. Und wo mich das hin gebracht hat, das hat mir der Turm und haben mir die Rasierklingen im letzten Jahr deutlich gezeigt. Ich muss meinen Wert woanders finden, unabhängiger werden von dem, was ich für Geld tue.
Kaum sitze ich an meinem Platz, steht mein Teamleiter vor mir. »Hallo Uwe, schön, dass du wieder da bist.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Denke ich insgeheim. »Lass uns gleich mal nen Kaffee trinken und ich erklär dir dann, was wir für dich für Aufgaben vorgesehen haben. Du sollst ja möglichst bald wieder voll arbeiten können.« Wieder denke ich bei mir: »Nein, eigentlich nicht, eigentlich soll ich das ganze langsam wieder hoch fahren. Aber das erklären werde ich wohl noch öfter müssen.« Wenn man so aus der Welt gefallen ist, wie ich es im letzten Jahr bin, dann hat man genug Zeit, die Dinge neu zu betrachten. Dann passiert es immer öfter, dass man den alltäglichen Wahnsinn nicht mehr akzeptieren kann oder will. »Wir haben hier eine Kultur der Spitzenleistung.« Mag ja sein. Aber wann? Heute? Morgen auch noch? Und wenn ich heute Spitzenleistung bringe, dann ist das doch Morgen für die meisten schon die Normalität.« Die Kunst, zu übertreiben, zu überfordern, zu überstürzen. Nirgends ist sie so präsent wie in der Arbeitswelt. Immer mehr, immer noch eine Schippe drauf, bis man nicht mehr kann, bis man auf der Strecke bleibt. Hat man Glück wie ich, wird man dann wieder aufgepäppelt, damit man danach wieder in das Hamsterrad kann, das für den, der darin ist wie eine Karriereleiter wirkt, in Wirklichkeit aber eher ein Arbeitskraftzerhäcksler ist.
»Ok, wir können das auch gleich machen.« Ich grinse möglichst motiviert. Lächeln und winken, immer schön lächeln und winken. Und was ich jetzt hinter mich gebracht habe, belastet mich schon nicht mehr den Rest des Tages.
Beim Kaffee, den wir in der Cafeteria eine Etage höher einnehmen, erfahre ich, dass im Moment Personal abgebaut werden soll, man aber für mich und in meinem Team auf jeden Fall noch Aufgaben habe. »Mach dir mal keine Sorgen, du kommst jetzt erst mal wieder an, und dann sehen wir weiter.« Innerlich liege ich am Boden vor lachen. ICH soll mir keine Sorgen machen. Ich! Das ist ja wie der berühmte rosa Elefant
»Und komm auf mich zu, wenn was nicht stimmt, jetzt, wo du wieder gesund bist, wollen wir ja nicht, dass es gleich wieder zu einem Rückfall kommt.« Soll ich jetzt erklären, dass ich nicht gesund bin, es wohl nie mehr ganz werde? Dass ich mittlerweile einen Behinderungsgrad von 40 habe und wohl auf 50 kommen werde? Dass ich immer auf mich achten muss? Ach was, es ist ja schon ein Erfolg, dass ich wieder aufgenommen werde. Verstehen, was es bedeutet, eine Depression mit sich zu tragen? Das wird hier nicht passieren, dafür ist gar keine Zeit. Man wird mich zu integrieren versuchen, aber wenn etwas nicht klappt, muss ich aktiv werden. Und das ist es, was mir früher als ich erwartet habe, beinahe wieder das Genick brechen wird. An diesem Tag bin ich zunächst nur froh, wieder im Büro zu sein, wieder meine Existenz durch Arbeit zu rechtfertigen und merke gar nicht, dass ich dank meiner Ängste fast sofort wieder in den alten Trott verfallen bin. Die alten Dämonen warten. Nur ich sehe sie noch nicht. Aber sie sollen bald wieder erscheinen und schneller als mir lieb ist wie die Dementoren in den Harry Potter Romanen meine Lebensenergie nach und nach aus mir saugen. Der Riss in meiner Seele ist eben nur geflickt, nicht geschlossen. Die ersten Tage verlaufen problemlos. Kleine Aufgaben, quasi Appetithappen, damit der psychisch noch instabile arme Kerl ja nicht überfordert ist. Eine der ersten Aufgaben ist es, das neue Telefon einzurichten, das man wohl hausweit eingeführt hat und das wieder ganz anderer Einstellungen bedarf. Aber mit Hilfe der Hotline und Eigeninitiative läuft nach ein paar Stunden auch das.
Auf den Fluren treffe ich immer wieder Kollegen, die zunächst verblüfft feststellen: »Dich hab ich ja schon lange nicht mehr gesehen.« Um dann wahlweise geschockt, betroffen, amüsiert oder nahezu ignorant auf meine Erklärung zu reagieren. Denn ich bin schonungslos. Ich beginne immer mit dem Suizidversuch, spare mir weder meine Angststörung noch die Depression und auch das halbe Jahr in Kliniken lasse ich nicht aus. Meist so in etwa bei der Hälfte meiner Geschichte spüre ich, dass viele es jetzt am liebsten gut sein lassen würden. Die Mutigen schieben »Einen dringenden Termin« vor, der Rest zeigt mir körpersprachlich und durch extreme Wortkargheit, dass man meine Geschichte so ausführlich nun auch wieder nicht kennenlernen wollte. Es ist halt immer noch seltsam, sich mit jemandem mit einer psychischen Krankheit konfrontiert zu sehen. Einige wenige haben wirkliches Interesse, natürlich Barbara, mit Sibylle meine Lebenretterin damals in dem Turm, als ich mir die Pulsadern öffnen wollte. Sie fragt nach, will wirklich wissen, was in den letzten Monaten geschehen ist und ist erstaunt, als sie vom Buch und der TV Doku erfährt, bei der ich dabei sein werde. »Wow, ein richtiges Buch, bei nem echten Verlag?« Man sieht und hört ihre Überraschung. »Ja, ist ne lange Geschichte, aber ich bin mit dem Manuskript so gut wie fertig, in den nächsten Wochen gehts an den Verlag.«
»Das finde ich klasse. Und du hast das wirklich ganz alleine geschrieben?«
Da kommt mir ein Gedanke, schließlich hatte Barbara schon in der Vergangenheit dankenswerterweise Texte von mir korrekturgelesen.
»Wenn du möchtest, schick ich dir das Manuskript, dann kannst du es schon mal probelesen. Aber dann bitte auch ganz ehrlich deine Meinung sagen.«
»Mensch Uwe,« sie strahlt mich an. »Das würde ich unglaublich gerne machen. Danke, ich werd auch ganz ehrlich sein in meiner Kritik.«
Das Buch, eine völlig verrückte Geschichte. Aber hey, was hatte ich schon zu verlieren.
Also ließ ich mich auf das Spiel ein und erstellte mit meinem Literaturagenten gemeinsam ein Expose und eine Leseprobe. Im schlimmsten Fall würde ich das Buch meinen Kindern geben, damit sie etwas genauer nachvollziehen könnten, warum der Papa tat, was er getan hatte. Und weil ich mich ja sowieso in der Wartezeit zwischen Klinik und Rehamaßnahme fünf Monate lang beschäftigen musste lag nichts näher, als in dieser Zeit bereits am Buch zu schreiben. So hatte ich mir wenig Chancen eingeräumt, als mein Agent dann zur Buchmesse fuhr »um zu sehen, ob wir einen Verlag für das Buch finden werden. Ich will Ihnen aber nicht zu viele Hoffnungen machen.«
Dass er mir nur wenige Tage später in einer Email schrieb,er habe drei Verlage, die sich für meine Geschichte interessierten, ließ mich die EMail fassungslos wieder und wieder lesen. Drei Verlage! Ich hatte nicht mal damit gerechnet, auch nur ein Verlag könne meine Geschichte spannend finden. Als ich mit diesem Wissen in die Reha Klinik fuhr, war schon das an sich, die Aussicht tatsächlich veröffentlicht zu werden für mich ein unglaubliches Antidepressivum. Und ich sollte noch weitere Überraschungen erleben.
Barbara ist wirklich die einzige an diesem ersten Tag, die sich für mehr als nur die Aufenthalte in den Kliniken interessiert und ob ich denn nun wieder arbeitsfähig bin. »Das find ich total spannend mit dem Buch.« Sie strahlt mich an, nickt als wolle sie mir nochmal bestätigen, dass sie es ernst meint. »Und wie geht es deiner Frau, den Kindern?« Da trifft sie einen wunden Punkt. Schon als ich nur ein paar Wochen in der Klinik war, konnte man an unserem Jüngsten, der sonst ein hochaktiver Sonnenschein ist feststellen, dass er immer häufiger ohne wirklichen Befund krank wurde. Schließlich riet man uns, mit ihm »Auch wegen der Geschichte des Herrn Papa« mal zu einem Therapeuten zu gehen. Mittlerweile gehen alle drei Kinder zum Therapeuten, was sich bei unseren dreien als Glücksfall erwiesen hat, denn so können sie das erlebte besser verarbeiten. Und ich fühle mich nicht mehr ganz so schuldig, wie noch in den ersten Wochen in der Psychiatrie. Jetzt hast du nicht nur dein Leben versaut, sondern auch das deiner Kinder, war mein erster Gedanke. Aber mittlerweile sind wir uns alle fünf einig, dass der Suizidversuch auch ein heilsamer Einschnitt war, der uns alle jetzt offener, befreiter miteinander umgehen lässt. »Also die Familie hat das Ganze eher noch fester zusammengeschweißt.« Und das ist noch nicht mal gelogen. »Nur hätte ich gerne auf diesen harten Schnitt verzichtet.« Dabei zeige ich wie zur Bestätigung die immer noch leicht sichtbare Narbe an meinem rechten Arm. Barbara nickt. »Das glaub ich dir aufs Wort. Aber man kann nicht immer vorhersehen, wohin einen das Leben führt. Und jetzt hast du immerhin einiges in den Kliniken gelernt.«
»Ja, das schon. Aber ob ich das auch alles anwenden kann, wenn es hart auf hart kommt, das werden wir dann erst mal noch sehen.« Meine Angst vor Ranghöheren. Ich habe sie vorhin im Gespräch mit meinem Teamleiter wieder gespürt. Und die Existenzangst habe ich auch nicht wirklich unter Kontrolle. Deshalb tut es gut, wieder arbeiten zu gehen, auch wenn das nur ein Probelauf ist. So hart es sein mag, man kann sich das Leben so schön reden, wie man möchte. Am Ende zählt leider immer das Geld und das kommt nun mal nicht von irgendwoher. Deshalb habe ich den lediglich sechs Wochen Wiedereingliederung zugestimmt, auch wenn mir bei der Aussicht, so schnell wieder normal zu arbeiten schon etwas mulmig war, als ich das mit der Sozialberaterin in der Reha-Klinik ausgehandelt hatte.
Da sich der erste Tag aber gut anfühlt und ich mit den ersten kleinen Aufgaben ganz gut zu Recht komme, gehe ich an diesem nur vierstündigen Arbeitstag relativ entspannt nach hause, will sagen fahre mit dem Rad. Auf dem Rückweg versuche ich, die Arbeit hinter mir zu lassen, etwas, das mir früher überhaupt nicht gelingen wollte. Als ich schließlich zu hause in die Einfahrt einbiege, liegt der erste Arbeitstag auf Probe auch gedanklich hinter mir und ich kann mich tatsächlich auf das Familienleben einlassen, das in Gestalt meiner Kinder bereits an der Eingangstür auf mich wartet und aufgeregt und neugierig die neuesten Nachrichten will durcheinander auf mich niederprasseln lässt. Von hinten höre ich Sibylle: »Nun lasst den Papa doch mal erst reinkommen, dann könnt ihr ihm immer noch alles erzählen. Langsam. Und der Reihe nach.« Drinnen duftet es bereits nach Mittagessen und im Esszimmer stehen schon Teller auf dem Esstisch. Ich stolpere beinahe über eine unserer Katzen, die die Gelegenheit der offenen Haustür nützt und zwischen meinen Beinen hindurch in die Wohnung sprintet. Es ist Mimi, unsere schwarz-weiß gefleckte älteste Katze, die durch eine Krankheit ein Auge verloren hat, was ihrer Dynamik und auch ihrem Jagdtalent keinesfalls geschadet hat. Aber dieses Mal hat sie Gott sei Dank keine Maus im Maul. Ich stelle meinen Rucksack neben den Schrank im Flur, auf dem von Schlüsseln über Kopfhörer bis zu Tickets aller möglicher Krimskrams verteilt ist. Mit Blick auf die Kinder bemerke ich: »Da könnte man auch mal wieder aufräumen«, was von den Dreien mit einem genervten Augenverdrehen goutiert wird und sie blitzschnell auf ihre Zimmer verschwinden lässt.
Kapitel 1: Vorwort und Kapitel 1: Sie sind entlassen
Kapitel 2: Was habe ich mir dabei nur gedacht?
Kapitel 3: Was ist mit Papa passiert?
Kapitel 4: Der Tag, an dem mein Mann beinahe starb
Kapitel 5: Von Null auf sechs Wochen in zu wenig Zeit
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