Kapitel 2: Was habe ich mir dabei nur gedacht

Kaum jemand konnte wirklich nachvollziehen, wie es zu meinem Suizidversuch kam. Selbst mir war das ganze Ausmaß, waren die Zusammenhänge erst nach und nach klar, fügten sich wie Puzzleteile meiner persönlichen Geschichte zusammen.

Es ist schwer, jemand zu vermitteln, welch Kette von Ereignissen zu einem Suizidversuch führt. Aber immer steckt ein großes Maß Verzweiflung dahinter. Und viel Einsamkeit. Denn man fühlt sich nach und nach immer mehr von der »normalen« Gesellschaft ausgeschlossen. Man ist anders, nicht der Norm entsprechend. Aber statt darauf stolz zu sein, etwas Besonderes darzustellen, fühlt man sich minderwertig, falsch und schlecht. Manch Ratschlag lautet dann schnell, man möge die Lage doch realistisch sehen oder nicht alles so düster. Doch je länger man mit der Depression kämpft, umso tiefer gerät man in den Strudel aus Selbstzweifeln, einem unendlich dunklen Gefühl des Verlassen seins und des Bewusstseins, dass man die eigene Gefühlswelt weder sich selbst, noch seinem Umfeld vernünftig erklären kann.

Überhaupt, Ratschläge im Umgang mit Menschen, die suizidal sind, das ist ein schwieriges und intellektuell vermintes Terrain, und gar über die Problematik zu sprechen oder zu schreiben wagt kaum einer. Viel zu groß ist oft die Angst, damit erst Recht Gedanken an das Beenden des eigenen Lebens auszulösen.

Für mich ist heute klar, nur durch die Gespräche und die Aufmerksamkeit meiner Frau habe ich überlebt. Wer heute wissen will, wie zu handeln ist, dem rate ich schlicht das tun, was einem der gesunde Menschenverstand und ein gewisses Maß an Empathie Apriori als den Königsweg darstellt. Wer vermutet, ein Freund oder Bekannter spiele mit dem Gedanken an Suizid, sollte das auf keinen Fall ignorieren. Aber er sollte auch nicht mit guten Ratschlägen davon abbringen wollen, die alles oft nur noch viel schlimmer machen.

Zuhören, ohne werten, ohne Verurteilung. Das ist etwas, das sehr viel bewegen kann und oft einen verzweifelten Menschen doch noch nach Hilfe suchen lässt. Vorgetäuschtes Interesse ist hier nicht nötig. Es reicht oft, ein offener Zuhörer zu sein, der nicht wertet, der nicht die Lösung aus dem Hut zaubert wie das weiße Kaninchen. Selbst ehrliche Ratlosigkeit kann manchmal helfen. Denn man kann sie auflösen, indem man einen Betroffenen motiviert, sich Hilfe zu suchen. Dabei ist es nicht nötig, gleich mit der therapeutischen Keule des Psychotherapeuten oder Psychiaters zu kommen.

Das schreckt einen Menschen, der noch mit der eigenen Akzeptanz seiner Erkrankung kämpft, eher ab. Aber jeder Allgemeinmediziner kann hier zumindest eine erste Indikation geben, und ist eine weitaus mächtigere Instanz als man selbst. Es geht nicht darum, einen Betroffenen so schnell wie möglich in eine Klinik abzuschieben. Jedoch sollte man frühzeitig ein Fangnetz spannen von Anlaufstellen, Gesprächspartnern, Freunden, die unterstützen, helfen und sich auch gegenseitig auffangen.

Als Angehöriger ist es auf Dauer eine zu große Last, mit dem Betroffenen zu leben, Stütze, Hilfe und Partner oder Partnerin zu sein. Man sollte nicht nur den Kampf gegen eine Depression nicht alleine angehen. Auch die Angehörigen von Betroffenen sollten sich Hilfe suchen. Sonst werden sie irgendwann mitgezogen in den dunklen Strudel Depression oder psychische Krankheit. Im Fachjargon nennt man das Co-Abhängigkeit. Das eigene Leben verschwindet nach und nach und der erkrankte Partner, Angehörige oder Freund wird zum Zentrum allen Erlebens.

Im Rückblick war auch meine Frau aus Liebe zu mir bereits auf dieser Schussfahrt abwärts, als der Suizidversuch unerwartet einen Zwangsstopp ermöglichte. Viele Angehörige oder Freunde verkennen dieses Risiko oder wagen sich aus Furcht vor Stigmatisierung niemandem anzuvertrauen. Ein fataler Fehler, denn das beschleunigt oft nur die Abwärtsspirale beider, des Angehörigen und des Erkrankten. Das eigene Leben für das des psychisch Kranken aufgeben bedeutet nur, sich selbst in die gleiche Gefahr zu bringen. Manchmal mag es hier hart sein, die Distanz zu waren, auch mal nein zu sagen, wenn der Betroffene in Wehklagen ausbricht. Ja, wir können schon sehr zur Last fallen in den Phasen, in denen wir bei allem nur das Negative sehen, in denen wir die Welt für böse und uns für völlig verkannt halten. Und es ist ja nicht zur Gänze falsch. Aber die Intensität dieser Tiefs ist wie ein Sog für das Umfeld.

Und ab und an ist es für Freunde und Angehörige eben wichtig, sich diesem Sog zu entziehen. Als Angehöriger kann man nur der Begleiter sein auf dem Genesungsweg, der dafür sorgt, dass der Betroffene nicht erneut vom richtigen, vom heilenden Weg abkommt. Dafür sorgen, dass die Medikation genommen, die Arzttermine wahrgenommen und die Krankheit für voll genommen wird. Das ist das Wichtigste. Und für sich selbst sorgen, damit man nicht in der Krankheit des anderen verloren geht. Das ist nicht egoistisch oder verantwortungslos, sondern sehr klug. Denn ein selbst erkrankter Partner oder Freund ist keine Hilfe, sondern für sich selbst und den kranken Partner oder Freund noch eine weitere Bürde und schürt das bereits völlig überdrehte Schuldgefühl noch mehr.

Kapitel 1: Vorwort und Kapitel 1: Sie sind entlassen

Kapitel 2: Was habe ich mir dabei nur gedacht?

Kapitel 3: Was ist mit Papa passiert?

Kapitel 4: Der Tag, an dem mein Mann beinahe starb

Kapitel 5: Von Null auf sechs Wochen in zu wenig Zeit

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