Was ist eigentlich Scham?

Zunächst mal Dankeschön an Laura, die mich eingeladen hat, für ihren Podcast über Scham und Schamgefühl zu sprechen. Wenn der Podcast online ist, werde ich ihn hier verlinken.

Sucht man bei Wikipedia nach dem Begriff „Scham“, findet sich ein ganzes Sammelsurium soziokultureller, philosophischer, anthropoligischer  und diverser anderer gesellschaftlich-wissenschaftlicher Erklärungen zum Begriff Scham, seiner Herkunft, der Entstehung des Schamgefühls und so weiter und so weiter.

Mich interessiert aber hier vor allem, wie ich durch Scham und Schamgefühl beeinflußt, bin welche Teile meines Lebens davon gesteuert oder verurteilt wurden und werden und wo ich mein Schamgefühl verloren habe und warum.

Mich interessieren hier vor allem die Schamgefühle, die ich habe oder hatte, obwohl sie im Rückblick unnötig oder sogar schädlich waren und sind.

Gerade der gesellschaftliche Aspekt von Scham ist hier für mich interessant, da er mein Leben über viele Jahre hinweg bestimmt hat und auch heute noch viel zu oft mein Handeln und Denken beeinflußt.

Gerade in der Werbung und insbesondere im Bereich des körperlichen wird die Schamhaftigkeit des Menschen häufig ausgenutzt. Man wird sehr gerne als defizitär dargestellt, wenn man nicht Produkt a oder Kleidungsmarke b nutzt. Natürlich wird kein Marketingfuzzi das gerne zugeben, schon gar nicht, dass oft etwas vorgegaukelt oder nennen wir das Kind ruhig beim Namen, gelogen wird. Gott sei Dank hat sich hier auch durch die #metoo Bewegung einiges verändert, werden Normen und insbesondere Frauenbilder hier mittlerweile hinterfragt.

Aber dennoch wird nach wie vor oft die „Schäm dich für dein Defizit“ Karte ausgespielt.

Und oft ist Scham auch paradox. Gerade im Bereich der Sexualität halte ich vieles, was in unserer Kultur schambehaftet ist für schlichtweg falsch.

Wir schämen uns, in Kontexten nackt oder leicht bekleidet zu sein meiner Ansicht nach oft viel mehr deshalb, weil wir glauben, nicht der Körpernorm aus Medien und Werbung zu entsprechen. Aber diese Norm ist so weltfremd, so menschenfeindlich, dass eigentlich fast jeder aus der Norm fällt. Sind wir doch mal ehrlich, gerade wenn etwas nicht der Norm entspricht, ist es doch oft interessant.

Hier finde ich sehr spannend, dass mittlerweile zum Beispiel Menschen mit körperlichen Einschränkungen oder nicht normgerechten Körpern nicht mehr länger Scham ihr Leben beherrschen lassen. Erotische Fotografien nicht normgerechter Körper, keine Verbergen mehr von Prothesen sondern vielmehr stolzes Tragen zum Beispiel ganz besonders gestylter künstlicher Arme oder Beine. Es bewegt sich was, auch deshalb, weil immer mehr Menschen erkennen, dass Scham in diesem Bereich auch viel mit Ausgrenzung und Diskriminierung zu tun hat.

Scham hat sehr oft etwas mit gesellschaftlichen und kulturellen Normen zu tun. Dabei ist es wichtig, diese immer wieder zu hinterfragen, zu prüfen. Selbst meine eigene Geschichte ist schambehaftet und erst durch „den Zwischenfall“ habe ich viel meiner unnötigen Schamgefühle verloren.

Was meine Scham bezüglich meiner Sexualität oder meines nackten Körpers angeht, war die nie besonders ausgeprägt. Als ich während meiner Therapie durch die Medikamente als Nebenwirkung impotent wurde, war es für mich nicht sonderlich schwer, dies vor meiner Therapeutin anzusprechen.

ABER: Ich konnte extrem gut über die Scham vor Blamage im beruflichen Umfeld gelenkt werden. Sobald Defizite, Fehler oder schlicht mein Wertemodell eventuell meine berufliche Laufbahn oder schlicht die Möglichkeit, durch das Geldverdienen zu überleben bedrohen konnten, schämte ich mich zutiefst für jeden noch so kleinen Fehler. Auch oder gerade das war ein ganz großer Faktor auch beim Suizidversuch. Ich schämte mich, weil ich glaubte, ein Versager zu sein, nichts zu können, beim Vortäuschen erwischt worden zu sein. Scham wird im Alltag sehr oft auch genutzt, um Menschen dazu zu bewegen, etwas zu tun, was sie sonst nicht tun würden.

Ich halte es für extrem verwerflich, welches Bild Medien und Öffentlichkeit zum Beispiel viel zu oft von Menschen zeichnen, um den Status Quo zu bewahren Wer in unserer Gesellschaft keine Arbeit findet, soll sich schämen und wird als Arbeitsloser all zu oft stigmatisiert. Wer nicht dem Konsumwahnsinn folgt, fühlt sich schnell ausgeschlossen oder defizitär.

Gleichzeitig verlieren Menschen in Machtpositionen immer mehr jede Scham. Für mich ist Donald Trump kein Einzelfall, sondern nur die extreme Form der Schamlosigkeit, die heute bei all zu vielen Menschen mit Macht vorherrscht.

Natürlich ist auch die Sexualität ein Feld, in dem vieles noch all zu sehr schambesetzt ist. Wir sind sicher schon weiter als noch vor Jahren, wenn es die Akzeptanz von Homosexualität oder bestimmten sexuellen Vorlieben angeht (okay, mit Ausnahme einiger, die in ihrer Sichtweise irgendwo bei der Inquisition und der Prüderie vergangener Jahrhunderte hängen geblieben sind) eigentlich sollte sich niemand für seine sexuellen Neigungen schämen müssen, sofern sie sich im Rahmen des ethisch moralischen Kontexts bewegen.

Missbrauch von Menschen, unabhängig von Alter oder Geschlecht ist falsch und wird es auch immer bleiben. Aber alles, was gesetzlich und kulturell nicht verboten ist, sollte nicht Grund für Schamhaftigkeit sein. im Gegenteil, gerade das Verstecken führt hier oft zu Problemen oder verhindert, dass Menschen, die sich hier außerhalb von Gesetz und Moral bewegen zur Rechenschaft gezogen werden. Es war ein sehr großer, sehr wichtiger Schritt, als Frauen es wagten, trotz kulturell indoktrinierter Scham, Missbrauch durch Männer öffentlich zu machen, Diskriminierung offenzulegen und zu hinterfragen, warum der Körper einer Frau entweder abgewertet wird, weil nicht einer Schönheitsnorm entsprechend oder sexualisiert wird, weil Männerfantasien befriedigt werden sollen.

Ich finde es eine berechtigte Frage, warum das Bild eines nackten männlichen Oberkörpers überhaupt kein Problem darzustellen scheint, eine nackte Frauenbrust aber mit nahezu 100% Sicherheit zum Beispiel in den sozialen Medien zu einer Mischung aus Anzüglichkeiten bzw. zu Zensur führt, selbst wenn diese Darstellung in Kontexten vorkommt, die eher medizinischer Natur sind wie Brustkrebsaufklärung und ähnlichem. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen, oder es wird der männliche Blick als Rechtfertigung für Zensur angeführt.

Etwas übertrieben gesagt, sollte es weder ein Grund für Zensur sein, wenn ein nackter Frauenkörper ästhetisch nackt dargestellt wird. Scham wird im Bereich der Sexualität noch all zu oft als Druckmittel eingesetzt. Missbrauch wird verheimlicht, weil ein falsches Schamgefühl die Opfer schweigen lässt.

Scham ist sicher in vielen Bereichen ein soziologischer oder moralischer Stellhebel, der oft sinnvoll ist.

Aber selbst heute, in einer angeblich so aufgeklärten Zeit wird Scham noch zu oft eingesetzt um zu lenken, zu beeinflußen oder zum Schweigen zu bringen.

Sobald ich mich für etwas schäme, sollte ich genau hinterfragen, ob diese Scham berechtigt ist oder ob ich mich schlicht nur deshalb schäme, weil ich glaube, hier defizitär zu sein. Scham darf schützen aber nicht behindern. Schamhaftigkeit darf nie dazu führen, dass Menschen mit Grenzüberschreitungen davonkommen.  Es sind sehr viel seltener die Täter, die sich schämen als die Opfer. Mein Suizidversuch und das, was zu ihm geführt hatte, nämlich eben auch Scham vor vermeintlichem beruflichen Versagen hätte mich nicht nur fast das Leben gekostet, es hat mir schon Jahre zuvor das Leben zur Hölle gemacht. Heute schäme ich mich auch noch viel zu oft wo es gar nicht angebracht ist.

Der Unterschied? Ich erkenne es häufiger und es gelingt mir häufiger, die Scham umzulenken in Richtung eines Hinterfragens der Normen, die meine Scham auslösen oder zu hinterfragen, ob sie überhaupt angebracht ist

Wir schämen uns zu oft für die völlig falschen Dinge und wir schämen uns zu oft.

Ergänzung:

Natürlich konnte dieser Beitrag erst ein kleiner Abriss sein, es gäbe und gibt da noch viel mehr Aspekte und Themen anzumerken. Deshalb wird das wohl auch eher der Auftakt einer Reihe sein, die sich mit Scham- und Schuldgefühlen befassen wird.

Und weil vermutlich wieder viele falsche Hälse darauf warten, gefüllt zu werden.

Schickt mir gerne die Drohbriefe. Die werden gesammelt, wer weiß, wofür das noch gut ist 😉