Kontrollverlust

Ich denke, Kontrolle haben, Kontrolle bewahren war immer ein Schlüsselthema in meiner psychischen Geschichte. Die besten Zeiten meines Lebens waren das Studium (ein Humboldtsches, in dem noch nicht Studenten wie Kindern vorgeschrieben wurde, was sie wann zu studieren haben) und das dreijährige Forschungsstipendium bei IBM. Gott sei Dank hat meine Frau mich in dieser Zeit kennengelernt und zwar den echten Uwe. Dramatisch wurde es erst, als ich die Kontrolle abgeben musste. Als ich in ein Angestelltenverhältnis gewechselt bin. Noch dazu eins, bei dem ich mit meinem Magister in Computerlinguistik und Künstlicher Intelligenz eigentlich völlig überqualifiziert war. Aber da damals, Mitte der Neunziger die allerwenigsten eine Ahnung von CL&KI hatten, fiel das nicht weiter ins Gewicht.

Aber dort war ich Angestellter, erhielt Anweisungen, musste brav sein und folgen, wie ein kleines Kind. Meine Frau hat recht, ich hätte in der Forschung bleiben sollen oder mich selbständig machen. Denn seit diesem Zeitpunkt fühlte ich mich nicht mehr sicher. Ich hatte nach meinem Empfinden die Kontrolle über mein Leben verloren. Und beim nächsten Job kam noch dazu, dass mir aus meiner fortschrittlichen Arbeitsweise sogar ein Strick gedreht wurde. Wieder keine Kontrolle, kein selbständiges Entscheiden, wie ich optimal arbeite.

Erst nach den Klinikaufenthalten erkenne ich langsam, dass ich mehr Kontrolle hatte, als ich dachte. Sicher, einige Entscheidungen wurden durch meine Angststörung beeinflußt und dieses eine verdammte Gespräch hätte ich wütend abbrechen sollen, statt brav wie ein scheues Reh zu allem ja zu sagen.

Ich bin nach wie vor ein Angestellter, die Verpflichtungen, die auf mir liegen bedingen das (noch?) aber mein Herz ist endlich wieder frei. Ich bin Autor und habe einen Brot und Butter Job, der mir wirklich gefällt, zu mir passt und wo man auf Augenhöhe kommuniziert. Mein Leben dreht sich aber nicht mehr nur darum, wie ich möglichst viel leisten kann, um zu überleben.

Als ich die größte Angst davor hatte, die Kontrolle völlig zu verlieren und deshalb losgelassen und überhaupt keine Kontrolle mehr erwartet habe, genau dann bot man mir Chancen und Wege an, die mich mehr in die Kontrolle meines Lebens brachten, als jemals zuvor. Schade nur, dass es fast mein ganzes Erwerbsleben dauern musste, bis ich endlich auf den Trichter kam.

Jetzt stehe ich immer wieder auf der Bühne, ein Ort, an dem ich mich seltsam in der Kontrolle fühle. Ich erzähle meine Geschichte und kann dadurch anderen Menschen helfen. Und ich möchte helfen, möchte, dass mehr Menschen ihren Wert jenseits von Geld und Leistung erkennen. Eigentlich sogar noch mehr, ich möchte, dass dieser idiotische Drang nach immer mehr endlich aufhört, dass erwachsene Menschen nicht mehr im Beruf wie Kinder behandelt werden. Und das wir alle endlich wieder arbeiten, um zu leben und nicht, wie es uns immer noch als Ultima Ratio vorgegaukelt wird, leben um zu arbeiten.

Es wird noch ein langer Weg sein. Aber immerhin habe ich jetzt meinen Weg gefunden. Und der hat nichts mit Geld für Leistung zu tun. Der hat mit Freude am Austausch, Freude, anderen zu helfen zu tun.

(Bin mal gespannt, wer da wieder alles mögliche reininterpretiert, das nicht wahr ist. In der Vergangenheit gerne mal passiert. Die Briefe werde ich mir mein Leben lang aufheben. Denn ein Satz, in einem bestimmten Brief, hätte mich fast das Leben gekostet.)