Der junge Mann kann nicht mehr

Die Sonne verschwand am Horizont. Blut waberte im Meer unter ihr, bis der letzte Lichtstrahl von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Der junge Mann trat einen Schritt vor. Jetzt war die Zeit. Er wollte nicht, dass man ihn fand. Er wollte verschwinden. Leise, unauffällig, unbeachtet. So wie sein Leben verlaufen war. Noch ein Schritt, Steine bröckelten von der Kante der Klippe, stürzten polternd in die Tiefe.
Das Ende. Keine Schmerzen mehr, kein Unverständnis, keine Bedrängnis. Erlösung, Ruhe, Frieden. Es hatte so gar nichts beängstigendes, diese Verschwinden, dieses aus der Menschenwelt gehen.
Niemand sollte sagen dürfen, er habe nur einen Hilferuf abgesetzt. Die Zeit der Hilferufe, sie war lange vorbei. Er hatte so laut geschrien, unter Schmerzen, unter Angst. Niemand hatte gehört. Niemand hatte zugehört. Am Ende war er wie zu Beginn alleine. Doch jetzt war es eine erlösende Einsamkeit.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Erschreckt drehte der junge Mann sich um. Er blickte in ein wettergegerbtes Gesicht. Ein alter Mann stand vor ihm mit langen, grauen Haaren. Er trug einen langen Mantel. Seine blauen Augen blitzten den jungen Mann an.

„Du willst schon gehen?“, sprach der alte Mann ihn an.
„Ja, denn es gibt nichts mehr, was mich hält, nichts was so schön wäre wie erlösende Stille.“
Der alte Mann nickte: „Ich kann dich gut verstehen, es ist schmerzvoll, unsichtbar zu sein.“
Woher wusste der alte Mann von seinem Leid?
Der junge Mann trat einen Schritt vor, wollte bereit sein, für den letzten Weg.
Der alte Mann trat zu ihm, stellte sich neben ihn, blickte ihn an. „Schön, nicht war, die Ruhe des Meeres?“
„Ja.“ Der Junge man nickte. Eine Ruhe, die heilt, die lindert. Ich war schon häufig hier, aber nie so nahe daran, meine Ruhe zu finden.“
„Ich weiß.“ Der alte Mann nickte. „Aber Ruhe für wen?“
„Für mich.“ Der junge Mann war sich sicher. „Vor der Welt, die mich nie gesehen, mich nie verstanden hat.
„Und du gönnst deiner Welt Ruhe vor dir?“
Wieder nickte der junge Mann. „Das ist es, was sie wollen. Eine Welt ohne mich, eine Welt ohne meine Probleme und Gaben, ohne meine Gedanken und Wünsche. Eine kleine, stille, harmlose Welt.“
„Die Frage ist aber doch, was willst du?“ Der alte Mann blickte dem jungen Mann tief in die Augen.
„Willst du, dass man sich nie mehr an dich erinnert, dass deine Gedanken, deine Gefühle still und heimlich aus der Geschichte deiner Welt ausradiert werden?“
Der junge Mann dachte nach. Er dachte lange nach. Er dachte nach, bis die Sonne hinter ihnen bereits wieder über die Hügel kroch, um einen neuen Kreislauf von Entstehen und Vergehen zu beginnen.
„Nein. Ich wollte immer gehört werden. Und das will ich auch heute noch. Aber es hört mich niemand.“
Er drehte sich um. Der alte Mann blickte ihn an. Seine Gestalt begann zu verblassen. Mehr und mehr mit jeder Kräftigung der Sonnenstrahlen.
Leise hörte der junge Mann den alten Mann sagen: „Dann verschwinde nicht von dieser Welt. Es gibt andere, die offene Ohren zu hören, offene Augen zu sehen, und offene Herzen zu verstehen haben.
Vergeude nicht deine Gaben. Verschenk Sie. Und vergiss nicht, das Buch zu suchen, das du zuhause versteckt hast. Meine Geschichte wird sonst nie geschrieben.
Der alte Mann verblasste, war nur noch ein Hauch, eine Erinnerung. Der junge Mann trat von der Klippe zurück. Er empfand ein Gefühl von Vertrautheit, als habe er den alten Mann lange schon gekannt. Er ging zurück, er ging fort, er ging in sein Leben. Den Tod würde er früh genug treffen, aber es galt noch eine Geschichte zu schreiben, deren Verlauf in seinen Händen lag. Seine Geschichte.